Zur Lage der Frauen in Afghanistan
Soraya macht sich keine Illusionen. Die 25-jährige Kabulerin weiß, dass sie einer schwer verkäuflichen Ware gleicht. Als mittellose Halbwaise, die in den Kriegswirren Vater und Bruder verloren hat, ist es fast unmöglich für sie in Afghanistan einen Mann zu finden. Mehrere Eheverhandlungen sind bereits gescheitert. Jetzt fürchtet Soraya, dass ihr Onkel sie an einen entfernten älteren Verwandten als Zweitfrau verkaufen wird. Solche Zwangsverheiratungen sind nichts Ungewöhnliches in Afghanistan.
In vielerlei Hinsicht spiegelt der Lebensweg der 25-jährigen Soraya - eine von 3.674 Frauen aus den Armenvierteln Kabuls, die von Caritas international für eine wissenschaftliche Studie nach ihren drängendsten Nöten befragt wurde - das Schicksal ihres Landes wieder: Als Soraya 1979 in Kabul zur Welt kam, marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Seitdem hat der Krieg sie begleitet. Ihr Vater starb als Mudschaheddin (Freiheitskämpfer) im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Nachdem die Taliban die Macht im Land übernommen hatten, engagierte sich ihr Bruder gegen die Fundamentalisten. Er wurde nach öffentlich geäußerter Kritik an der Politik der Machthaber von den Taliban hingerichtet. Danach floh Soraya, so wie sechs Millionen Menschen ihres Volkes, mit der übrig gebliebenen Familie nach Pakistan in ein Flüchtlingslager. Dort verbrachte sie drei Jahre, ehe sie Anfang 2002 nach Kabul zurückkehrte. Das kleine Haus der Familie war inzwischen zerstört. Gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Geschwistern lebt sie heute bei einem Bruder ihres Vaters in Kabul.
Die Befragung von Soraya und den anderen afghanischen Frauen sollte zwei Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes die Frage beantworten: "Wer von den circa 23 Millionen Afghanen braucht die Hilfe am dringendsten?" Die Antworten erlauben einen Blick hinter sonst verschlossene Türen. Sie ist bislang eine der wenigen seriösen Grundlage für die humanitäre Arbeit vor Ort.
Die zentrale Erkenntnis lautet: Wer in Afghanistan als Frau zur Welt kommt, wird mit weit größerer Wahrscheinlichkeit in Armut und Elend leben als ein Mann. Alleinstehende Frauen sind gar völlig an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Frauen ohne Ehemann haben das niedrigste Einkommen und erkranken statistisch am häufigsten von allen Bevölkerungsgruppen.
Entsprechend hart ist das Leben für Frauen wie Nasima. Die 35-Jährige ist Kriegswitwe - eine von 30.000 allein in Kabul. "Es ist sehr schwer für mich, ohne den Schutz eines Mannes zurecht zu kommen", berichtete sie den Caritas-Mitarbeiterinnen. Weil sie kein Geld gehabt habe, um ihre Familie zu ernähren, habe sie ihre beiden ältesten Töchter verheiraten müssen, als sie erst 13 und 14 Jahre alt waren. So wie knapp 70 Prozent der befragten Frauen müssen auch Nasima und ihre Familie pro Tag mit weniger als zwei Dollar auskommen. Nur 1,3 Prozent stehen mehr als vier Dollar täglich zur Verfügung. 17 Prozent verdienen zwei bis vier Dollar und 1,4 Prozent weniger als einen Dollar. Das bedeutet, dass bei einer Durchschnittsgröße von fünf Personen pro Familienmitglied kaum 20 Cents zur Verfügung stehen.
95 Prozent der Befragten gaben an, drei Mal am Tag zu essen. Allerdings besteht eine dieser Mahlzeiten oft nur aus Tee und Brot. Früchte können sich 85 Prozent der Menschen nur ein Mal in der Woche leisten, 49 Prozent gar nur ein Mal im Monat. Noch Besorgnis erregender ist die Versorgung mit Milchprodukten: 97 Prozent gaben an, dass sie für sich und ihre Kinder Milchprodukte nur ein Mal im Monat kaufen können. Einem Drittel der Befragten stehen weniger als sechs Cent pro Tag und Person für die Ernährung ihrer Familie zur Verfügung. Die Mangelernährung schlägt sich u.a. in der großen Zahl von Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten nieder.
Seit die Taliban von der Macht abdanken mussten, kann Nasima zumindest arbeiten. Sie backt Brot. Doch ohne Hilfe der Kinder geht das nicht. Damit die Familie überleben kann, müssen ihre Töchter das Brennholz für den Ofen sammeln. Der finanzielle Zwang, ihre Familien unterstützen zu müssen, ist einer der häufigsten Gründe dafür, dass Kinder nicht Lesen und Schreiben lernen. Nur 61 Prozent der Kinder zwischen 5 und 15 Jahren gehen zur Schule, obwohl seit dem Sturz der Taliban 99,3 Prozent der befragten Haushalte Zugang zu Schulen haben. Dass auch ihre Töchter zu den Analphabeten gehören, macht Nasima Sorgen: "Sie werden keine gute Arbeit finden, denn sie können weder lesen noch schreiben. Wenn ich an ihre Zukunft denke, fange ich an zu weinen."
Damit die afghanischen Eltern sich um die Ausbildung ihrer Kinder kümmern, ist es von zentraler Bedeutung, die allgemeine Lebenssituation im Land zu verbessern. Bislang können sich 98 Prozent der Frauen keine Elektrizität leisten und haben keinen direkten Zugang zu Trinkwasser. 56 Prozent der Frauen teilen sich mit ihren Familien ein einziges Zimmer. Durchschnittlich leben in den befragten Familien sechs Personen, die größte Familie besteht aus 33 Familienmitgliedern. Latrinen werden in den Armenvierteln meist von zehn oder mehr Personen benutzt. Der Zustand der Häuser ist zumeist schlecht bis katastrophal. Trotzdem zahlen 55 Prozent der zur Miete lebenden Menschen mehr als acht Euro Miete pro Monat. Vierzehn Prozent der Befragten leben in zerstörten Häusern, von denen wiederum die Hälfte trotzdem Miete zahlen müssen. 250 Familien leben illegal in ihren Häusern. Ihr Leben gleicht einem Kampf, der nur das tägliche Überleben zum Ziel hat.
Angesichts der mangelhaften Ernährung, schlechter hygienischer Zustände und dem in zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg kollabierten Gesundheitssystem verwundert es nicht, dass die Lebenserwartung der afghanischen Frauen kaum 47 Jahre beträgt (Männer: 48). Kennzeichnend für die Zustände im Land ist auch die Kindersterblichkeitsrate, die eine der höchsten der Welt ist: 165 von 1.000 Kindern sterben bei oder kurz nach der Geburt. 279 von 1.000 Kindern, so zeigen die Statistiken weiter, sterben noch innerhalb der ersten fünf Lebensjahre. Es wurde zudem ermittelt, dass bei 100.000 Geburten 1.600 Mütter ihr Leben verlieren. Eine Ursache in der hohen Müttersterblichkeit liegt darin, dass Männer ihre Frauen nicht allein zu den Gesundheitsstationen gehen lassen. Die Männer verweigern dazu die Erlaubnis, weil sie sich vor Angriffen und Verleumdungen von Fundamentalisten fürchten oder weil sie es ihrem eigenen Ehrgefühl nicht vereinbaren können.
In 14 Prozent der befragten Haushalte leben körperlich oder geistig behinderte Familienmitglieder. 61 Prozent sind männlich und älter als 15 Jahre, 25 Prozent sind weiblich und älter als 15 Jahre, 13 Prozent sind Kinder unter 15 Jahren. Körperliche Behinderungen rühren in vielen Fällen von Kriegsverletzungen. Oftmals war es eine der Hunderttausenden von Landminen, die den Menschen Hände, Arme oder Beine abgerissen haben.
Dass sich in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mittlerweile zumindest einige kleine Fortschritte erzielen ließen, ist vor allem den Anstrengungen der Hilfsorganisationen zu verdanken. 99 Prozent der afghanischen Kinder konnten mittlerweile gegen die wichtigsten Krankheitserreger geimpft werden. Immerhin 56 Prozent der Frauen sind in der Lage, innerhalb eines einstündigen Fußmarsches eine Gesundheitsstation zu erreichen - über die Qualität der Gesundheitsversorgung ist damit allerdings noch nichts gesagt. Durch die aktuellen Anschlagsgefährdungen, denen NROs ausgesetzt sind, wird sich die Qualität absehbar nicht verbessern lassen.
Die besondere Aufmerksamkeit der Caritas-Studie galt den alleinstehenden Frauen - seien sie verwitwet, geschieden oder Frauen mit Behinderungen. Ohne männlichen Schutz sind diese Frauen in der Regel der Willkür anderer Männer ausgeliefert. Oft sind es dabei Männer der erweiterten Familie, die den Frauen Gewalt antun. Wie bei Mumtaz, die mit 13 Jahren vom eigenen Onkel aus dem Haus ihrer Großmutter entführt wurde und mit ihrem Cousin zwangsverheiratet wurde. Der zwang sie zur Prostitution. Von brennenden Zigaretten verursachte Narben zeugen noch heute von Mumtaz' Widerstand. Erst sechs Jahre nach ihrer Heirat gelang es Mumtaz, zu ihrer Mutter zu fliehen, die als Putzfrau im Kabuler Militärkrankenhaus arbeitet und ihre 21-jährige Tochter so gut es geht unterstützt. Dass sie selbst, die unter schweren Traumata leidet, nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, belastet sie schwer. Die einzige Lösung für ihre Situation sieht sie in einer erneuten Heirat: "Zur Zeit bin ich für meine Familie nur eine Last."
Kaum leichter ist das Schicksal der Frauen, die von ihren Männern verlassen werden, aber nicht die Einwilligung zur Scheidung erhalten. So ist es Aqila vor drei Jahren ergangen, die nach der Verstoßung heute im Haus eines verwitweten Cousins lebt. Selbst wenn sie einen neuen Mann kennen lernen sollte, den sie gewillt wäre zu heiraten, könnte ihr Noch-Ehemann sie jederzeit zurückfordern. Oder sie des Ehebruchs anklagen - was zumeist lange Haftstrafen für die Frauen zur Folge hat und gelegentlich, vor allem im abgelegenen Hinterland Afghanistans, sogar mit Steinigung bestraft wird.
Um sich in der von Männern dominierten afghanischen Gesellschaft zumindest ein Minimum an Freiheit zu bewahren, benennen Witwen den ältesten Sohn, einen Bruder oder Cousin zum Oberhaupt der Familie. 60 Prozent der 756 befragten Witwen gaben an, zumindest ein männliches Familienmitglied zu haben, das älter als 15 Jahre ist. Solche Frauen, die so wie Habiba jedoch nur Töchter haben, trauen sich oft nicht aus dem Haus. Sie hat zu viele Geschichten von Belästigungen gehört und auch schon selbst erlebt. "Auch Außenstehende wissen, dass in unserem Haus kein Mann lebt und wir deshalb ohne Schutz sind."
Die Caritas-Studie hat gezeigt, dass trotz der intensiven Aufbaubemühungen und der Präsenz der ISAF-Truppen die Not in Afghanistan noch immer sehr groß ist. Von dieser Not sind aufgrund kultureller, religiöser und sozialer Bedingungen Frauen besonders schwer betroffen. Die in der Studie interviewten Frauen haben klar gemacht, dass sie gegenwärtig weniger Fragen von Bildung und Gleichberechtigung beschäftigen als das buchstäbliche nackte Überleben. Für 49 Prozent der befragten Afghaninnen hat die Ernährung ihrer Familie die höchste Priorität, 41 Prozent bedrückt die Wohnsituation am stärksten. Hingegen sieht nur ein Prozent der Frauen in der Bildung die wichtigste aktuelle Aufgabe. Die Gleichberechtigung fiel sogar als Antwort komplett durch oder wurde auf andere tragische Weise von einer Frau wie folgt angesprochen: "In diesem Land sollten keine Frauen geboren werden, denn Frauen sind hier nichts wert."
Für die aktuelle Arbeit können Hilfsorganisationen aus der Caritas-Studie vor allem zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen ist in Afghanistan die humanitäre Not- und Katastrophenhilfe nach wie vor notwendig und dies nicht nur in entlegenen Gebieten, sondern auch in Städten wie Kabul, Jalalabad und Kandahar, in denen zahllose Flüchtlinge um das nackte Überleben kämpfen. Ende 2001 lebten in der afghanischen Hauptstadt Kabul zirka 1,2 Millionen Menschen, heute sind es weit über drei Millionen Menschen, die sich um knappe oder gar nicht vorhandene Ressourcen streiten. Die Not der Menschen wird im Winter mit Temperaturen bis zu Minus 20 Grad besonders groß, fehlt es doch allerorten an Nahrung, sauberem Trinkwasser, warmer Kleidung und Heizmaterialien. Die zweite Schlussfolgerung muss auf die strukturellen Benachteiligungen zielen, denen viele Bevölkerungsgruppen aus ethnischen, religiösen oder sozioökonomischen Gründen ausgesetzt sind.
Insbesondere sollte hierbei eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen angestrebt werden. Arbeitsbeschaffungsmassnahmen, bezahlte Qualifizierungsangebote und auf die Gemeinde hin orientierte Aufklärungsanstrengungen im Bereich von Gesundheit und Hygiene sind diesbezüglich Angebote, die schon heute erste große Erfolge gezeitigt haben. Der Rückzug vieler Afghanen und Afghaninnen in fundamentalistische Konzepte ist Enttäuschungen und Ängsten geschuldet, die es gilt, kommunikativ und tatkräftig zu überwinden. Es gibt dazu keine Alternative. Von beiden Seiten - sowohl von Seiten der Bedürftigen als auch von Seiten der internationalen Gemeinschaft und der NROs - braucht es dazu einen langen Atem.
Träume von Heilung, Gesundheit und Hoffnung wie die des Mädchen Salima, das durch eine Rakete halbseitig gelähmt wurde, benennen die Aufgabe, der sich Hilfswerke wie Caritas international stellen müssen.
Dank der Unterstützung durch Caritas Luxemburg und der luxemburgischen Regierung leistet Caritas international seit 2008 Hilfe für Not leidende Frauen und Kleinkinder in Kabul und Kandahar. Vor allem Schwangere und stillende Mütter werden unterstützt. Sie erhalten neben Hilfsgütern wie Lebensmittel und Geburtsausstattungssets auch Gesundheits- und Hygieneunterricht.
November 2009